Kurzfassung
Hintergrund
Jährlich erleiden ca. 270.000 Menschen in Deutschland einen Schlaganfall. Etwa 30-40 % der Überlebenden entwickeln eine Aphasie. Neben sprachlichen Defiziten treten häufig auch motorische Einschränkungen, kognitive Defizite und psychosoziale Folgen auf. Damit einhergehend kommt es oft zu Depressionen, die bei Menschen mit Aphasie besonders häufig vorkommen. So weisen Betroffene ein Jahr nach dem Schlaganfall signifikant häufiger Depressionen auf als Menschen mit anderen chronischen...Hintergrund
Jährlich erleiden ca. 270.000 Menschen in Deutschland einen Schlaganfall. Etwa 30-40 % der Überlebenden entwickeln eine Aphasie. Neben sprachlichen Defiziten treten häufig auch motorische Einschränkungen, kognitive Defizite und psychosoziale Folgen auf. Damit einhergehend kommt es oft zu Depressionen, die bei Menschen mit Aphasie besonders häufig vorkommen. So weisen Betroffene ein Jahr nach dem Schlaganfall signifikant häufiger Depressionen auf als Menschen mit anderen chronischen Erkrankungen. Weiterhin ist meist ein sozialer Rückzug, der v.a. den Freundes- und Bekanntenkreis betrifft, bis hin zur sozialen Isolation zu beobachten, während familiäre Bindungen etwas weniger stark bedroht sind. An dieser Stelle können „Peers“, also gleichermaßen Betroffene eine wichtige Rolle einnehmen. In internationalen Studien konnte gezeigt werden, welch positiven Einfluss Peers auf die Lebensqualität von Menschen mit Aphasie haben können. Ein Austausch mit Peers kann z.B. in Selbsthilfegruppen erfolgen, aber auch in einem Setting, in dem zwei oder mehrere „passende“ Peers gematcht werden. Dieses ‚Matching‘ kann nach bestimmten Parametern, wie z.B. gleiche Interessen, Wohnortnähe oder ähnliches Alter vorgenommen werden. Der Austausch mit Peers kann sowohl im analogen Leben geschehen als auch mit Hilfe digitaler Medien. Letztere bieten sogar die Möglichkeit, dass sich Betroffene autonom vernetzen. Bisher fehlten aber sowohl ein an die Bedürfnisse der Zielgruppe angepasstes Tool als auch systematische Studien zu digitalem Peeraustausch von Menschen mit Aphasie.
Ziel
Ziel des Forschungsprojekts PeerPAL war die Entwicklung und Evaluation einer Software (smartphone-basierte App) zur autonomen Vernetzung von Menschen mit Aphasie, um durch den Austausch die Lebensqualität und das psychische Wohlbefinden der Betroffenen zu steigern. Zudem sollten Erkenntnisse zur digitalen Nutzung eines Tools bei Vorliegen einer sprachlichen Beeinträchtigung gewonnen werden.
Ablauf des Vorhabens
In der ersten Projektphase wurde die PeerPAL-App zur Vernetzung von Menschen mit Aphasie entwickelt. Dazu wurde in einem iterativen, nutzerzentrierten Prozess in sechs aufeinanderfolgenden Fokusgruppentreffen gemeinsam mit vier Menschen mit Aphasie ein Klickdummy kontinuierlich weiterentwickelt. Wichtig war es, die Wünsche und Bedürfnisse der Zielgruppe von Beginn an in die App zu integrieren. Die Teilnehmenden der Fokusgruppe wünschten sich beispielsweise eine intuitive Bedienoberfläche mit Symbolunterstützung, eine Erinnerungsfunktion an anstehende Aktivitäten und Termine und eine ausgewählte Menge an Emojis. Im Anschluss an die Fokusgruppentreffen wurde die App programmiert. Neben einem klassischen Chat gab es auch die Möglichkeit, Aktivitäten zu planen und andere Nutzende dazu einzuladen. In der zweiten Projektphase fand eine erste Machbarkeitsüberprüfung (Feasibility Studie) mit vier Menschen mit Aphasie statt. Vor Einschluss in die Studie wurden die Personen auf das Vorliegen einer Aphasie getestet und eine mittlere bis schwere Depression wurde mittels der Geriatric Depression Scale ausgeschlossen, um den präventiven Charakter der Maßnahme zu erhalten. Im Anschluss erhielten die vier Teilnehmenden der Feasibility Studie eine dreistündige, digitale Schulung, in der alle Funktionen der App erklärt wurden. Danach testeten die Teilnehmenden den Prototyp der App für zwei Monate. Im ersten Monat erhielten sie eine intensivere Begleitung, indem sie einen wöchentlichen Anruf zur Klärung von Fragen erhielten. Im zweiten Monat wurde nur noch technischer Support geleistet. Im Anschluss an die Studienphase wurden Schulungskonzept und App unter Berücksichtigung der Rückmeldungen der Teilnehmenden überarbeitet. Die dritte Projektphase umfasste die Interventionsstudie im Prätest-Posttest-Wartekontrollgruppendesign statt. Einschlusskriterien waren wie in der Feasibility das Vorliegen einer Aphasie und der Ausschluss einer mittelschweren bis schweren Depression (gemessen mit der Geriatric Despression Scale). Um zu ermöglichen, dass alle an der Studie Interessierten die App nutzen durften, wurde die erste Hälfte der rekrutierten Personen der Wartekontrollgruppe zugeordnet. Sie warteten drei Monate und erhielten in dieser Zeit die Standardbehandlung („usual care“), beispielsweise bestehend aus Spielangeboten in den Einrichtungen. Die später rekrutierte zweite Hälfte von Personen wurde der Interventionsgruppe zugeordnet und startete nach der Schulung sofort in die dreimonatige Intervention. Damit begann für beide Gruppen die Intervention zur etwa gleichen Zeit, wodurch sichergestellt wurde, dass in der App genug Personen zur Vernetzung zeitgleich aktiv waren. Insgesamt konnten 49 Personen rekrutiert werden, 24 in der Wartekontrollgruppe und 25 in der Interventionsgruppe. Um die Maßnahme evaluieren zu können, fanden Testungen vor der Interventionsphase (in der Wartekontrollgruppe zusätzlich vor der Wartephase), nach der Interventionsphase und zur Follow-Up-Erhebung nach weiteren drei Monaten statt. Jede Testung bestand aus Fragebögen zur Messung der Lebensqualität (primärer Outcome), Depressionen, den kommunikativen Fähigkeiten im Alltag und der Zufriedenheit mit dem sozialen Umfeld (sekundäre Outcomes). Die Unterstützung entsprach dem Vorgehen aus der Feasibility Studie. In der ersten Hälfte der Interventionszeit wurde intensiver unterstützt, in der zweiten Hälfte wurden die Hilfen sukzessive abgebaut und es fand nur noch technische Unterstützung statt. Nach Beendigung der Interventionsphase wurden 11 der 49 Teilnehmenden zusätzlich interviewt, um mehr über den Wirkmechanismus und die App-Nutzung zu erfahren. Die Durchführung des Projekts durch zwei Hochschulen erwies sich als sehr sinnvoll, um neben einer inhaltlichen Aufteilung (z.B. Programmierung an OTH Regensburg, Schulungskonzeption an KH Mainz) die Akquise von Teilnehmenden überregional umsetzen zu können.
Ergebnis
Die statistischen Analysen zeigten in der Gesamtgruppe eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität im Interventionszeitraum. Dieser Effekt erwies sich als stabil in der Follow-Up-Erhebung. In der Wartephase der Wartekontrollgruppe kam es zu keinen signifikanten Veränderungen. Dieses Ergebnis spricht für therapiespezifische Effekte. Es gab jedoch keinen Hinweis darauf, dass die Personen, die die App mehr nutzten als andere, auch stärker von der Maßnahme profitieren konnten. Bezüglich der Depressionsmarker gab es keine signifikanten Veränderungen, weder im Warte- oder Interventions- noch im Follow-Up-Zeitraum. Damit wurde das Ziel einer präventiven Maßnahme erfüllt. Die Auswertung der Interviews zeigte folgende Ergebnisse: Die Teilnehmenden bewerteten die App sehr positiv. Besonders herausgestellt wurde die Möglichkeit, gemeinsame Aktivitäten zu planen und durchzuführen. Bemängelt wurde die geringe Anzahl an Personen (aus ihrer näheren Umgebung), die die App genutzt haben. Der zukünftige Gebrauch der App erscheint unter der Bedingung gut vorstellbar, dass mehr Menschen mit Aphasie die App nutzen würden. Positiv erwähnt wurden auch der als sehr wertvoll empfundene Austausch mit anderen Peers und die eigene Wahrnehmung einer verbesserten Lebensqualität. Es gibt Hinweise auf eine identitätsverändernde Wirkung, die durch die Maßnahme hervorgerufen wurde» weiterlesen» einklappen
Veröffentlichungen
- Kurfess, Christina; Corsten, Sabine; Nickel, Maren et al.
- Improving health-related quality of life for people with aphasia through peer support using the digital network PeerPAL
- Kurfess, Christina; Nickel, Maren; Corsten, Sabine et al.
- Improving health-related quality of life for people with aphasia through peer support in a digital network (PeerPAL)