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Selfie-Proteste – eine emergente Praktik des Protests im Web 2.0

Laufzeit: 01.01.2013 - 31.12.2015

Kurzfassung


Das 'TIME-magazine' kürte Ende 2011 'The Protester' zur Person des Jahres, und blickte damit auf zwölf Monate zurück, die durch zahlreiche Proteste geprägt waren. Den Protesten um den Arabischen Frühling in der ersten Hälfte des Jahres folgten Besetzungen durch Occupy-Movements in den USA und Europa. Auch wenn sich beide Protestbewegungen in ihren Motiven stark voneinander unterschieden und auf unterschiedlichen Kontinenten statt-fanden, hatten beide Bewegungen den ausgiebigen Gebrauch des...Das 'TIME-magazine' kürte Ende 2011 'The Protester' zur Person des Jahres, und blickte damit auf zwölf Monate zurück, die durch zahlreiche Proteste geprägt waren. Den Protesten um den Arabischen Frühling in der ersten Hälfte des Jahres folgten Besetzungen durch Occu¬py-Movements in den USA und Europa. Auch wenn sich beide Protestbewegungen in ihren Motiven stark voneinander unterschieden und auf unterschiedlichen Kontinenten statt-fanden, hatten beide Bewegungen den ausgiebigen Gebrauch des Social Webs zur Protestkommunikation gemein: Das Web 2.0 wurde genutzt, um zu informieren, zu or-ganisieren und zu mobilisieren. Dabei entstand u.a. eine Protestform, die später als 'Selfie-Protest' benannt wurde.
Bei sogenannten ‘Selfie-Protesten’ handelt es sich typischerweise um Serien von Foto-grafien, häufig Selfies, die durch einen Hashtag oder eine Seite in sozialen Netzwerken ver-breitet und aktiv von individuellen NutzerInnen weitergeführt werden. Tatsächlich handelt es sich bei der Mehrzahl der Protest-Selfies zwar nicht um Selbstporträts im eigentlichen Sinne, doch findet sich ein starker Selbstbezug: Das Bild zeigt das protestierende Individuum selbst, wel¬ches den Protesttext durch einen selbst formulierten und meist handschriftlich nieder¬ge-schrieben Text, in den Händen hält.
Im Zentrum dieser Studie stehen damit der Selfie-Protest als politische Protestaktion bzw. als lose organisierte Sensibilisierungskampagne im Social Web sowie das einzelne Protest-Sel-fie als individuelles Protestkommunikat, deren Charakteristika am Beispiel zweier ausge-wählter Selfie-Protest-Aktionen aufgezeigt werden:
(1) #standbyme: Im September 2013 reicht die britische Regierung beim Parlament den Vorschlag für ein neues Migrationsgesetz ein, das ausländischen Studenten die Einreise nach Großbritannien erschweren würde. Als “secret weapon” starten Studenten der Uni-versität von Sheffield den Aufruf zum Hochladen von Fotos, die Freundschaften zwischen britischen und ausländischen Angehörigen der Universtität (Dozenten und Studenten) doku-mentieren. Die Aktion soll sichtbar machen, dass hinter jedem ausländischen Studenten auch ein britischer Student steht, der für ihn eintritt. Die Aktivisten weisen darauf hin, dass sie (paradoxerweise) das narzisstische Selfie dafür nutzen wollen
(2) #AuchichbinDeutschland: Protest-Selfies von Personen of Colour, die im Februar 2014 an der Universtität von Harvard unter #itooamharvard entstanden, um auf alltagsrassistische Äußerungen an der Elite-Universität hinzuweisen, erlangten unter anderem durch Folgeaktionen in den USA, Großbritannien, Niederlande, Finnland, Deutschland, Südafrika und Frankreich große Aufmerksamkeit. Ab April 2014 wurden hierfür unter #auchichbindeutschland Fotos gesammelt, in denen Menschen ihre Erfahrungen und State-ments präsentierten.
Die Studie wird auf einer (a) Mikroebene eine semiotische Analyse des Protest-Selfies vorlegen. Herausgearbeitet werden dabei spezifische Symbole, Motive und Themen in Text und Bild. Insbesondere die Evolution dieser spezifischen Charakteristika innerhalb einer Pro-test-Aktion ist von Interesse, wenn man davon ausgeht, dass das einzelne Protest-Selfie zwischen Einreihung und Anpassung an Normen einerseits und Individualisierung andererseits entsteht. Auf der (b) Mesoebene soll die Frage beantwortet werden, in welche Tradition politischer Aktivitäten und Genres sich der Selfie-Protest einreiht. Der Wechsel-beziehung zwischen Mikro- und Mesoebene wird besondere Beachtung geschenkt, um zu überprüfen, inwiefern das Setting die einzelnen Proteste prägt. Auf der (c) Makroebene erfolgt die Diskussion der Frage, wie der Impact individueller Selfie-Aktionen zu bemessen ist und wie sich eine demokratische Bedeutsamkeit der Selfie-Proteste beschreiben lässt?
Einige Herausforderungen bezüglich dieser Analyse lassen sich vor allem auf der metho¬di-schen Ebene festmachen: Wie lassen sich die items eines Selfie-Protests in der Veränderlichkeit und Reichweite des Web 2.0 sinnvoll erfassen? Welche items zählen innerhalb eines Hashtags als Protest-Selfies – wo beginnt die Grenze des sich wahllosen Einreihens in ei¬ne digitale Gruppe? Wie geht man um mit der Lückenhaftigkeit der Doku-mentierbarkeit länger zurückliegender Pro¬teste?
Selfie-Proteste stellen formal ein Beispiel für ein Durchbrechen der traditionellen Linearität politischer Kommunikation und sozialer Gruppenformation dar. Sie sind ein Forum für User-Innen, öffentlich und themengebunden ihre Meinung oder Solidarität kund zu tun und auf¬ein-an¬der Bezug zu nehmen – und stellen somit ein Potenzial dar, als meinungsbildende Gegen-öffentlichkeit zu fungieren, die in der Form einer Grassroots-Bewegung politics und policy ver¬ändert Diese Gegenöffentlichkeit zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass 1. die Schwelle zur (quasi-)politischen Partizipation sehr niedrig ist, 2. verschiedenste Themen, Po-si¬tionen und Forderungen Anlass sein können, 3. die Rezeption (neben nicht aktiv teil¬neh-men¬den UserInnen) oft zum Eingang in den traditionellen massenmedialen Diskurs führt.
Damit eröffnen diese viralen Protestaktionen einen Möglichkeitsraum der politischen Ein-fluss¬nahme und verfügen dadurch über ein nicht genau absehbares Wirkungspotenzial, das einer weiteren Kenntnisnahme, Beobachtung und Erforschung bedarf.

Literatur
Chomsky, Noam (2012): Occupy, Penguin Books, Zuccotti Park Press, New York.
Hensel, Alexander; Klecha, Stephan; Schmitz, Christopher (2013): “Vernetzt euch - das ist die einzige Waffe, die man hat” - Internetproteste, in: Walter, Franz (Hg.): Die neue Macht der Bürger, BP-Gesellschaftsstudie, Rowohlt, Hamburg. 267-300..
In der Smitten, Susanne (2007): Online-Vergemeinschaftungen - Potentiale politischen Handelns im Internet, Fischer Verlag, München.
Jarren, Otfried/ Donges, Patrick (2011): Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft. 3. grundlegend überarbeitete und aktualisierte. Aufl. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden.
Jenkins, Henry; Ford, Sam; Green, Joshua (2013): Creating value and meaning in a networked culture: Spreadable Media, New York University Press, New York.
Rutledge, Pamela B. (2013): #Selfies: Narcissism or Self-Exploration? Cell phone cameras have de- mocratized self-portraiture—voilà selfies. In: Psychology Today. Online: http://www.psychologytoday.com/blog/positively-media/201304/selfies-narcissism-or-self-exploration w(letzter Zugriff: 18.01.2014)
Shifman, Limor (2014): Memes in Digital Culture, The MIT PRess, Cambridge, Mass, London.
Sifferlin, Alexandra (2013): Why Selfies Matter. Time Health & Family, 6.9.2013. Online: http://healthland.time.com/2013/09/06/why-selfies-matter/ (letzter Zugriff: 02.06.2014).
Walser, Rahel / Klaus Neumann-Braun (2013): Freundschaftsnetzwerke und die Welt ihrer Fotoalben. In: Christine W. Wijnen / Sascha Trültzsch / Christina Ortner (Hg.). Medienwelten im Wandel: Kommunikationswissenschaftliche Positionen, Perspektiven und Konsequenzen. Wiesbaden: Springer VS, 151-166.
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